Transit-Geschichte(n) oder Die F 5 – Vielfältige Fernfahrer-Erinnerung an eine ungewöhnliche Straße

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Peer Schmidt-Walther vor seinem 42-Tonner. © BU: Peer Schmidt-Walther

Berlin, Deutschland (Roads’R’Us). Wer kennt sie nicht, die „Zauberformel F 5“? Sie weckt gute und natürlich auch schlechte Erinnerungen, zumindest bei denjenigen Kollegen, die bis November 1982 zwischen Berlin und Norddeutschland auf Achse waren. Am 28. Oktober wurden sie durch die NDR-Sendung über die F 5 daran erinnert. Auch der Autor, der sich damals als Fernfahrer verdingt hat, um für Branchenmagazine über das Leben „auf dem Bock“ zu schreiben.

30 Jahre lang mussten DDR-Transitfahrer, die sich für diese Strecke entschieden hatten, entweder am schleswig-holsteinischen Grenzübergang Lauenburg/Elbe (BRD)/Horst (DDR) oder in Staaken (Berlin-West/DDR) ein- bzw. ausreisen, je nach Fahrtrichtung.
Von 1952 bis 1982 war die frühere Reichs-, heute Fernverkehrsstraße 5 – kurz F 5 genannt – die einzige direkte Landstraßenverbindung zwischen Berlin und dem Bundesgebiet.

240 Kilometer F 5, die es in jeder Hinsicht in sich hatten. Man erinnert sich heute nur noch, vielleicht auch etwas nostalgisch verklärt, an die bewegte Zeit auf der alten preußischen Heerstraße. Eine Schlaglochpiste war sie allemal (trotz einiger Umgehungs- oder Asphaltabschnitte), auf der man durchgerüttelt und durchgeschüttelt wurde. So mancher Kollege und seine Bandscheiben können sicher heute noch ein schmerzhaftes Lied davon singen.

Der Autor auf dem Bock vor einer Fahrpause. © BU: Peer Schmidt-Walther

Aber sie hatte Charakter, die alte F5. Eine Verwechslung mit einer Bundesstraße oder neuen Transitautobahn war sicher ausgeschlossen. Die sind geradezu langweilig dagegen, ermüdend im Vergleich zu den engen, gewundenen Ortsdurchfahrten und den endlosen Alleen mit „Tunnelblick“. An deren Uralt-Bäumen zerschellte so mancher Lastzug. Eine unkontrollierte Lenkbewegung konnte schon dazu führen. Im günstigsten Fall fuhr man sich nur einen Spiegel ab, wenn zwei 38-Tonner auf der schmalen kopfsteingepflasterten Landstraße aneinander vorbeimussten.

So ein Verkehrsweg hat seine Geschichte, aber wer kennt die schon.

Also, das erste 1,5 Kilometer lange und 60 Meter breite Teilstückließ vor 335 Jahren der Große Kurfürst anlegen: als Verbindungsweg zwischen dem Stadtschloss (wo heute der Palast der Republik steht, in dem die DDR-Volkskammer tagt) und dem Tiergarten. 1737 wurde verlängert bis zum späteren Brandenburger Tor. Das war das westliche Ende der berühmten Straße Unter den Linden. Friedrich II. (auch „der Große“ genannt) ließ dann bis zu seinem Schloss Charlottenburg weiterbauen. Zwischen 1910 und 1911 wurde unter Kaiser Wilhelm II. eine regelrechte Ost-West-Achse draus, die bis zum Truppenübungsplatz Döberitz reichte. Aha, darum auch der Name „Heerstraße“.

Be- und Entladen sind oft auch Fahrersache. © BU: Peer Schmidt-Walther

Was aus dem weiteren Verlauf der F5 wurde? Nun, aus Verhandlungen zwischen Preußen und Mecklenburg ergab sich das Abkommen vom 1. Juli 1824. Darin hieß es u.a., dass eine neue „Kunststraße“ von Berlin über Perleberg, Grabow, Ludwigslust und Boizenburg/Elbe geführt werden sollte. Nicht nur preußische Postkutschen, sondern auch Fuhrwerke jeder Art sollten zugelassen werden.

Im damaligen Preußen bestanden die Straßen aus Knüppeldämmen und waren – einerWellblechpiste nicht unähnlich – von miserabler Qualität (offenbar hatte sich bis in die letzten Tage der Transitstraße daran nichts geändert). Friedrich II. verbot dann dieses Baumaterial – eine glatte Verschwendung war’s ja auch – und ordnete Feldsteinpflasterung an (davon gab es ja auf den kargen Sandböden mehr als genug, und den Bauern tat man obendrein einen Gefallen). Truppen ließen sich auf derartigen Wegen dann ja auch schnell verlegen, klar. Selbst Napoleon befahl, an der Fernstraße weiterzuwerkeln. An dem damaligen Baustil hatte sich bis in unsere Zeit auch nichts geändert: befestigte Straße in der Mitte, links und rechts der Sommerweg zum Marschieren und Reiten. Linden begrenzten das Ganze zu beiden Seiten.

Das halbrunde Straßenprofil und der unbefestigte Sommerweg waren bei Ausweichmanövern ein geradezu kostenloser Schleuderkurs, aber so mancher Kollege konnte seinen Zug nicht mehr halten. Die Unfallstatistik war auch entsprechend. Eine Rennstrecke wurde deshalb nie aus der F 5. Sie war stellenweise auch so eng, dass im Einbahnverkehr gefahren werden musste. Napoleon war an allem schuld, natürlich! Seit 1830 gab es dann endlich die durchgehende Verbindung Hamburg-Berlin.

Mit einem Mercedes 1632 durch die DDR. © BU: Peer Schmidt-Walther

Hier soll unsere Fahrt in die F-5-Vergangenheit einsetzen.

Einfahrt Grenzkontrollpunkt Lauenburg/Horst. Da wurde man gleichdurch zwei große Tafeln darauf hingewiesen, was man auf den kommenden 240 Kilometern zu tun oder zu lassen hatte: „Interzonenreisende! Meldet besondere Vorkommnisse bei Kontrollen unmittelbar nach Verlassen der Zone, auch wenn ihr selbst davon betroffen seid!“

Oder einige Zeit später dann so: „Reisende nach Berlin (West): Nach dem Transitabkommen sind bestimmte Vorschriften der DDR zu beachten, u.a.: kein Material verbreiten, keine Personen aufnehmen, die Transitwege nicht verlassen, Strafvorschriften und die Straßenverkehrsvorschriften der DDR beachten!“

Auf der F 5 durfte nicht sein, was sonst überall auf der Welt erlaubt ist: parken, wann man will (ich musste z.B. einmal weiterfahren, weil ich mal „musste“, da kannte der Volkspolizist kein Pardon); in eine Dorfkneipe gehen, weil man durstig ist; Umwege fahren, um Verwandte zu besuchen; umkehren. Einzig und allein geradeaus durfte es gehen.

Und erst die Bürokratie! Warenbegleitscheine „durfte“ man in sechsfacher (!) Ausfertigung bereithalten, die beim Wirtschafts- bzw. Ernährungsministerium des jeweiligen Bundeslandes genehmigt werden mussten. Beim DDR-Zoll waren Transit-Visum und Straßenbenutzungsgebühren bar zu bezahlen. (der Senat von West-Berlin zahlte das dann der Spedition zurück).

Peer Schmidt-Walther auf VOLVO F 12 im Winter unterwegs © BU: Peer Schmidt-Walther

Über den schmalen Damm der Delvenau-Niederung, in der als einzige Lebewesen hin und wieder Störche im Sumpf herumstocherten, rollte man im Schritttempo von Deutschland-West nach Deutschland-Ost. „Willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik!“ war da in riesigen Lettern mit Staatswappen Hammer und Zirkel zu lesen.

An der wackligen Holzrampe des DDR-Zolls konnte immer nur ein Lastzug halten. Da mussten wir (vor dem Transit-Abkommen von 1971) teilweise stundenlange Kontrollen mit schikanösem Aus- und Einladen (ob zu Weihnachten oder bei harten Minusgraden – egal) über uns ergehen lassen. Später gab‘s zur individuellen Beschleunigung der Abfertigung schon mal das eine oder andere Geschenk, denn irgendwann kannten sich Fahrer und Grenzer. Menschlich-Allzumenschliches eben auch hier.

Nach der langwierigen Begutachtung von Ladung, Papieren und Fahreridentität begann die eigentliche Fahrt auf der F5. Mit viel Schwung und qualmendem Auspuff mussten die Moränenhügel erstürmt werden, die die Elbe-Niederung säumen. Auf der Anhöhe thronte der Vorkontrollpunkt für DDR-Fahrzeuge aus der anderen Richtung. Bis hierher reicht der fünf Kilometer breite Sperrstreifen, den man nicht ohne Sondergenehmigung betreten darf.

Überprüfung des Bremsluftkessels – Schwitzwasser ablassen. © BU: Peer Schmidt-Walther

Die achtprozentige Gefällstrecke vom hohen Geestrücken wieder hinunter in die Marsch war tückisch, natürlich besonders im Winter: die reinste Rutschpartie.

Die alte Stadt Boizenburg kündigte sich bei dieser „Bergfahrt“ durch die modernen Portalkräne des VEB Elbewerft an, auf deren Hellingen große Binnenfahrgastschiffe für sowjetische Rechnung gebaut wurden.

Glück im Unglück auch am Boizenburger Berg: Wir kamen gerade vorbei, als sich ein Hamburger Bitumenzug einfach auf den Rücken legte. Kreideweiß kletterten die geschockten Kollegen heraus, während sich die Räder über ihnen noch drehten. Durch Boizenburg hieß es wachsam sein und kurbeln. Die sehr enge Ortsdurchfahrt und das alles durchschüttelnde Kopfsteinpflaster ließen keinen Blick zu auf das sehenswerte, alte Fachwerkrathaus. Dann bekam ich es schließlich doch noch zu Gesicht. Aus einem anderen Grund werde ich es nicht vergessen. Eine VoPo-Streife stoppte uns und eskortierte uns ausgerechnet auf dem Rathausplatz. „Haben Sie schon mal Ihre Rückseite gesehen? So jedenfalls fahren Sie nicht weiter durch die DDR!“ Wie sollten wir das auch gesehen haben können! Was war passiert? Dahatten ein paar hirnlose Schmierfinken Hakenkreuze und anderen NS-Schmutz in den Dreck gekratzt. Her mit Wasser und Schrubber, bis der Speditionsnamenszug wieder einwandfrei zu entziffern war.

In Pritzier lauerte mit großer Wahrscheinlichkeit meistens eine Radarfalle – in einer Linkskurve mit Gefälle. Wer die nicht kannte, mit 80 Sachen angeflogen kam und dann noch Bremsverzögerung hatte…

Frisch gewaschen auf dem Speditionshof. © BU: Peer Schmidt-Walther

Ludwigslust bot einen schnellen Blick – links, rechts – auf Schloss und Schlosskirche, zu mehr reichte es nicht. Eine andere aufmerksame VoPo-Streife, die allgegenwärtig schien, stoppte uns auch hier einmal ab, weil das Auflieger-Kennzeichen „auf halb acht“ hing. Mit etwas Draht wurde auch dieses kleine Transit-Problem – unter uniformierter Aufsicht, versteht sich! – gemeistert.

In Karstädt war‘s dann meistens aus mit dem Fahren, zumindest für die nächste halbe Stunde. Der Eisenbahnverkehr Hamburg-Berlin und die stark frequentierte Nord-Süd-Strecke durch die Republik kreuzten hier die F5. An der Schranke dauerte es dann nur ein paar Sekunden – die Jungs kannten „ihren“ Fahrplan –, bis sich ein paar Gestalten aus dem Dunkel lösten und zu uns heraufkletterten: „Kollegen, habt ihr etwas zu essen, zu rauchen oder zu lesen für uns?“ Wir hatten immer, und tagsüber waren es Bonbons und Schokolade für die Kinder, die sich auch dann an uns herantrauten

Eine berühmte Bahnstrecke noch dazu, der wir da unfreiwillig immer wieder unsere Reverenz erwiesen. Am 11. Mai 1936 schaffte hier auf der langen Geraden die knallrote Stromlinien-Schnellzuglok 05 002 mit 201 Kilometern pro Stunde den Geschwindigkeitsweltrekord für Dampflokomotiven. Was sind wir dagegen auf unserer Dauer-Kriechspur!?

Hoch auf dem blauen SCANIA 111-Wagen. © BU: Peer Schmidt-Walther

Ein weiteres Eisenbahn-Erlebnis besonderer Art konnte man haben zwischen Viesecke und Perleberg. Da dampfte, fauchte und schnaufte der „Poller“, eine kleine 99er-Schmalspurlok mit ihrem Zügle parallel zur F 5 und mit den Lkws „um die Wette“. Boschhorn und Dampfpfeife lieferten sich ohrenbetäubende Phonduelle. 12 Kilometer fuhr man zusammen auf gleicher Höhe – aus purem Spaß an der Freude und nicht, um der Westpriegnitzer Kreiskleinbahn zu zeigen, dass sie nicht mehr als 30 bis 35 Sächelchen draufhatte. Lokführer und Fernfahrer blieben gelassen und freuten sich über dieses ungleiche Spiel.

Fernfahrer-Treffpunkt war die Raststätte Quitzow, wo man gut und preiswert essen konnte (z.B. ein Zigeunerschnitzel mit Bratkartoffeln und gemischtem Salat für ganze 5 DM, wo gab’s das noch?). Das alkoholfreie Bier – in der DDR herrscht die Null-Promille-Regelung – trug den schönen Namen AUBI. Nachts hatte Quitzow dicht. Wenn man aber trotzdem auf dem Parkplatz ein kleines Nickerchen halten wollte, konnte man sicher (sowieso!) sein, dass die VoPo einen nach spätestens zwei Stunden weckte. Welch ein Service war das noch. In Kyritz mussten wir die Oberarmmuskeln wieder spielen lassen. Lenkarbeit durch rechtwinklige Gassen stand auf dem Arbeitsprogramm. Bei Gegenverkehr lief nichts mehr, und die Spiegel mussten beigeklappt werden. Zu unfreiwilligen Voyeuren wurden wir, als wir vom hohen Bock unerwünschte Blicke in DDR-Wohn- und Schlafzimmer werfen konnten. Man winkte sich tagsüber zwar zu, aber nachts mussten die hochdrehenden Brummi-Maschinen nicht gerade ein Wiegenlied gewesen sein.

Peer Schmidt-Walther mit Kollege Gerhard auf Achse bis nach Nordschweden. © BU: Peer Schmidt-Walther

Hinter der Kyritzer Schranke, von einem „hervorragenden Schrankenwärterkollektiv“ – so das Schild draußen vor – bedient, rutschten wir mal bei 25°C im Schatten mit 25 Tonnen Steinen hinten drauf in den Chausseegraben. Die Kardanwelle hatte ihren Geist aufgegeben, war gebrochen. LPG-Großtraktoren bissen sich an uns die Zähne aus, bis ein Raupenschlepper sowjetischer Bauart uns auf den Haken nahm. Nach über 18 Stunden Gefangenschaft und Wühlerei unter der Maschine, von zwei VoPos rund um die Uhr bewacht, hatten wir eine Ersatzwelle eingebaut. Die wurde extra aus Hamburg per Pkw herangeschafft. Auf einem nahegelegenen Bauernhof durften wir uns gnädiger Weise waschen und von den alten Bauersleuten Bratkartoffeln und Spiegeleier entgegennehmen. Eine „Kontaktaufnahme zu DDR-Bürgern“ wurde uns dabei ausdrücklich untersagt.

Dann Nauen mit seinem sowjetischen Soldatenfriedhof samt rotem Stern im Stadtzentrum. Kurz vor dem Grenzkontrollpunkt Staaken wurde man dann aber noch einmal sehr deutlich darauf hingewiesen, wer die „wahren Herren im Hause“ sind. Schier endlos zockelte man mit maximal 60 Sachen mitten durch die kilometerlangen Kasernenanlagen von Döberitz. Von unserem Brummi-„Hochsitz“ konnten wir Soldaten der Roten Armee und Panzer beim Manöver beobachten. Die Kettenrassler sorgten auch dafür, dass die Kasernenstraße in einem rollbahnmäßigen, also miserablen Zustand war. Da brauchte man schon seine verstärkten Stoßdämpfer und Federn gegen Querrillen und knietiefe Schlaglöcher. Überall viersprachige Schilder: „Fotografieren verboten, stehenbleiben verboten, es wird geschossen, Sperrgebiet!“ Wehe dem, der hier liegenblieb!

Peer Schmidt-Walther als MAN-Kutscher auf Fernfahrt. © BU: Peer Schmidt-Walther

Zur Nazizeit befand sich hier 1936 auch das Olympische Dorf, in dem heute sowjetische Offiziersfamilien wohnen. Die 240 Kilometer in die F-5-Vergangenheit nähern sich ihrem Ende. Sie zogen sich hin durch viele Kurven, Ortsdurchfahrten, Radarfallen, Bahnübergänge; Traktoren, Pferdefuhrwerke, Mähdrescher, Radfahrer, ja sogar Fußgänger bildeten zusätzliche Hemmnisse für uns Fernfahrer.

Ein Unfall bedeutet immer erst einmal Knast, egal ob schuldig oder nicht. Diese Aussicht stimmte keinen von uns froh, wenn er auf die Strecke ging.

Bei Dunkelheit gab es nur wenige reflektierende Markierungen. Es schien, als hätte sich in der 150jährigen Geschichte der Fernstraße 5 kaum etwas verändert, wenn man die geschlossenen Alleen und riesigen Kilometerstein-Monolithen aus friderizianischer Zeit an sich vorüberziehen sah.

Die gute, alte F 5 ist wieder in ihre Dorfidylle zurückgefallen. Die Anwohner konnten endlich aufatmen, im doppelten Wortsinn, seitdem der Transitverkehr über die Autobahn rollt. Berlin-Staaken: Wir sind am Ziel.

Anmerkung:

Lesen Sie auch den Beitrag Gleich zwei Mal in die Falle geraten… – Fernfahrer-Erlebnisse auf der F 5 zwischen Horst und Staaken von Dr. Peer Schmidt-Walther.