Saimaa, Finnland (Roads’R’Us). Die Reaktionen sind vielfältig und schwanken zwischen „Du spinnst wohl total“ und „Toll, das wollte ich immer schon mal machen“. Was „das“ ist, so stellt sich bald heraus, entpuppt sich zu Corona-Zeiten geradezu als ein Abenteuer.
Banger Blick zur Wetter-App: wird´s oder wird´s nichts mit dem Start in den hohen Norden? Seit Tagen rauscht ein riesiges Tiefdruckgebiet vom Atlantik her übers Land. Mit Regen natürlich, denn Winter gibt es hier – „dank“ Klimaerwärmung – anscheinend nicht mehr.
Doch dann zeigt die mittelfristige Vorhersage plötzlich einen Temperaturabfall an genau für die Gegend, wohin wir fahren möchten: nördlich der finnischen Stadt Imatra mit den groben Koordinaten: 61°30´ N 29°30, E. Dahin, wo es „dunkel und kalt“ sei, wie Bekannte mitleidig meinen, „und hinter jedem Baum Elch, Wolf oder Bär lauern“.
Mit Begleitmusik an Bord
Im Januar 2021 kurzfristig einen preiswerten Fährplatz von Deutschland nach Finnland zu bekommen, ist kein Problem, besonders zu Corona-Zeiten. „Da muss man schon ein bisschen verrückt sein“, meint die Dame am Finnlines-Telefon, und man sieht ihr förmlich ein schiefes Grinsen an. „Das Ticket bekommen Sie dann am Schalter vor der Abfahrt“, gibt sie mit auf den Weg und wünscht ironisch: „Na, dann mal frohes Zittern!“
Die Heckklappe der 218 Meter langen FINNLADY ist weit geöffnet. Es dauert noch, bis ein Kombi mit grell blinkenden Rundumleuchten eine Fahrzeugschlange nach dem anderen über das weitläufige Terminal mit seinen verschlungenen Pfaden in den Rachen der Ro-Pax (Güter-, Passagier-)-Fähre lotst. Überdies schluckt der 46.000-Tonnen-Riese auch noch jede Menge unbemannte Trailer und Lastzüge mit Fahrern. Insgesamt können Fahrzeuge auf 4,2 Kilometern Länge an Bord geparkt werden. Gewaltig!
Bepackt mit Proviant für zwei Wochen rollt der Wagen schließlich in Lübeck über die große Heckklappe auf den Frachter. Ringsum eingekeilt von werksfrischen, mit weißen Schutzfolien beklebten VW-Tiguan-Brüdern aus Wolfsburg. Die Begleitmusik in den riesigen Laderäumen ist infernalisch: Spannketten klirren, Motoren heulen auf, Reifen quietschen. Arbeitslärm eben.
Vor den Fahrstühlen zu den Passagierdecks staut sich nur eine Handvoll Finnland-Fahrer mit Sondergenehmigung und ihrem Bord-Handgepäck. Bald verschwindet die müde Meute in ihren Kammern, verschläft nach vielen Stunden Autofahrt das Auslaufmanöver um drei Uhr früh und freut sich auf den ersten Seetag. Vorher müssen allerdings noch die Uhren umgestellt werden, denn in an Bord gilt finnische Zeit, also eine Stunde plus. Man fährt ja schließlich nach Nordost.
Entspanntes Tummeln
Das Tagesprogramm verspricht nicht nur für den Hunger eine Menge: vom kleinen Frühstück bei Roggenbrot und Rentierfleisch im „Star Café“ über das große Brunch-Büffet (das man sogar zwei Mal besuchen darf) im Restaurant „Mare Balticum“ bis zum „Sailors Shop“ mit Duty-Free-Ware wird hier einiges zu nicht übertriebenen Preisen geboten. Übrigens: Passage-Frühbuchern winken kräftige Rabatte, wie die Reederei Finnlines für ihre drei Linienschiffe auf der Finnland-Route wirbt.
Auf den weitläufigen Decks kann man sich bei Sonne entspannt tummeln, während die Kids ausgelassen in ihrer Spielecke toben. Die bordeigenen Saunen werden auch gern frequentiert. Die Fernfahrer haben ihre eigene, um sich hier vor langer Fahrt noch mal richtig entspannen können.
Das alles macht Hunger, den man mühelos beim Seetags-Dinner im Restaurant „Mare Baltikum“ stillen kann. Mit Genuss, wohlgemerkt. Bei Wein, Bier und Softdrinks gratis (während der Rückreise gegen Bezahlung, um die Autofahrer nicht unnötig zu verführen).
Auf der Brücke wachen die Steuerleute über einen sicheren Kurs, den der fünfsprachige Kapitän Pekka Stenvik vorher festgelegt hat. Seine langjährige Erfahrung und die Wachsamkeit der Crew garantieren eine sichere und abwechslungsreiche Überfahrt nach Helsinki-Vuosaari. Auf der Rückfahrt hat man leider nur eine Bordnacht,. „um einen hohen Umlauf zu garantieren“, erklärt Pekka aus Turku, der mit seiner „Lady“ einen Traumjob gefunden hat. Sein Kollege, Zweiter Offizier Justus Nyquist, ist gebürtiger Potsdamer, lebt aber aus Liebe zu Land und Leuten mit Frau und Kindern auf einer einsamen Insel im lappländischen Inarisee. Wir verstehen uns auf Anhieb, nachdem er von meinem „Nordspleen“ erfahren hat.
Am nächsten Morgen ein Schatten an Steuerbord: Bornholm, Stunden später voraus Öland, irgendwann gegen Abend an Backbord Gotland. Am Spätvormittag kriechen die wenigen Mitpassagiere aus ihren Kojen und steuern das Restaurant an. Schließlich will man Steak und Pommes mit Rotwein nicht verpassen. Entspannende Programmpunkte danach: schlafen oder saunieren.
Kulinarische Einstimmung auf Finnland zum Abendessen mit Piimää, der berühmten Sauermilch, Lachs, Dillkartoffeln und süffigem, dunklen Karhu-Bier.
„Das hält man schon mal zwei Tage während einer Überfahrt aus“, lacht ein finnischer Sattelzug-Fahrer und streichelt seinen Bauchansatz. Dass das Essen ein nicht unwesentlicher Wohlfühl-Faktor ist, weiß der Küchenmeister ganz genau.
Der Mann ist mit seinem 42-Tonner unterwegs von Spanien nach Kuopio in Mittelfinnland und wieder zurück. „Und immer wieder geht´s per Frachter nach Hause“, freut sich der Trucker, der die komfortable Ruhepause nach und vor dem Fahrstress genießt.
Endlich da!
Poltern um fünf Uhr früh. Als würde jemand mit einem riesigen Vorschlaghammer gegen die Bordwand donnern: wumm, wumm-wumm, wumm – in immer kürzeren Abständen und härter. Bis es mir wie Schuppen von den Augen fällt: Treibeis, das winterliche Finnland klopft an. Für das Schiff mit höchster finnisch-schwedischer Eisklasse ein Kinderspiel, als würde er durch Sahne marschieren. Mit Schlaf ist es vorbei, draußen herrscht arktische Finsternis.
Geschafft nach 30 Stunden bei flotter 23 Knoten-Fahrt mit urlaubseinstimmender Kreuzfahrtatmosphäre über die stille Ostsee. Ein paar geruhsame Stunden Autofahrt – ohne deutschen Straßenstress – sind es vom Hafen Helsinki-Vuosaari bis zu „unserem“ Ferienhaus, auf Finnisch „mökki“, mitten im Saimaa-Seen-Gebiet West-Kareliens bei Vuoriniemi. Die Blechlawine verflüchtigt sich Gott sei Dank schon gleich hinter der finnischen Hauptstadt. Wie schon seit 50 Jahren, als ich zum ersten Mal in den hohen Norden startete. Wobei Finnlines immer ein zuverlässiger Transportpartner war, auch bei winterlichem Eis.
Von Helsinki bis Imatra sind die Straßen noch geräumt. Weiter nordöstlich jedoch setzt Schneetreiben ein. Die Finnen drosseln, trotz Spikes-Bereifung, das vorgeschriebene Landstraßen-Tempo 80 noch weiter, niemand überholt, so dass die Auto-Schlange immer länger wird. Es geht ohnehin nur wie auf Schienen in einer vereisten Spur entlang, und an den Straßenrändern drohen in regelmäßigen Abständen „Starenkästen“, die heute nichts zu tun bekommen.
Hügelauf, hügelab, durch dichtes schneebeladenes Nadel- und Birkenwaldspalier, windet sich das relativ schwach befahrene Asphaltband. Immer öfter blitzt ein erstarrtes, verschneites Seestück von insgesamt 188.000 durchs Gehölz. Das älteste Gestein der Welt, der granitene Baltische Schild, und die Eiszeiten standen Pate für diese attraktive Landschaftstrilogie aus Wald, Wasser/Eis und Fels.
Um überhaupt zu unserer Hütte – sie soll uns die nächsten beiden Wochen gehören – zu finden, ist das Navi mit der genauen Anschrift ein unentbehrliches Hilfsmittel.
Letztes Stück: eine kilometerlange schneebedeckte Splitt- und Sandpiste, auf der der Wagen ins Schleudern geraten oder ausbrechen kann, aber dank Allradantrieb und Spurassistent nicht im Geringsten daran denkt. Undurchdringliche Schneestaubwolken vernebeln die Sicht nach hinten. Vor uns die baumbestandene eineinhalb Kilometer lange und 500 Meter breite Halbinsel Mökinniemi. Sie thront hoch über dem Ufer des Saimaa Sees, den man mit 180-Grad-Blick überblicken kann. Koordinaten: 61°37`N29°12È.
Das Navi führt mich brav nach Tynkkylän Lomaniemi, Lomaniementie 66, 58580 Vuoriniemi. Hier wohnt die Familie von Jukka Heikkonen auf ihrem ehemaligen Bauernhof, Besitzer und Vermieter ihrer 14 Ferienhäuser.
Koivurinne, eine Mökki-Bude im finnischen Winterwunderland
Der Empfang vor dem blitzsauberen historischen Gehöft ist so herzlich, als würde man sich schon ewig kennen: „Terve!“, „Willkommen!“ Jukka schwingt sich hinters Steuer seines Lieferwagens und fährt vornweg: ein paar hundert Meter hügelauf, hügelab, durch tief verschneiten Fichten- und Birkenwald, der mit tonnenschweren Felsbrocken aus der letzten Eiszeit garniert ist. Schnell das Ziel am Ende eines Stichweges erreicht: „unserer“ Holzhütte „koivurinne“: Einrichtung und Komfort des Anwesens machen geradezu sprachlos. Nach über vierzig Mal Ferienhaus-Urlaub ist sie mit Abstand die Schönste und Komfortabelste. Jukka, der mit Vater und Brüdern selbst viel Hand angelegt hat, freut sich über das Kompliment. Überschrift: Wildnis trifft Komfort. Sogar mit Strom- und Wasseranschluss.
Bei einem Glas Glühwein erfahren wir mehr von Jukka (39). Die Großeltern wurden nach dem Krieg von den Russen aus dem östlichen Karelien von ihrem Hof vertrieben und mussten in Finnland wieder bei Null anfangen. Das Land konnte günstig gekauft werden, bot aber außer Wald und Fels wenig nutzbaren Grund für Landwirtschaft. 1997 hielten die Heikkonens noch 24 Kühe, bis der Stall abbrannte. Vater Arto, begeisterter Jäger und Fischer, hatte 1968 die zündende Idee: „Wir bauen Ferienhäuser“. Die ersten drei waren der Anfang von Tynkkylän Lomaniemi. Seit 1984 kam dank großer Nachfrage fast jeden Winter eine neues Häuschen dazu: in idyllischer Lage und unterschiedlichster Ausstattung für ebensolche Ansprüche auf der Halbinsel Mökkiniemi, der Hütten-Halbinsel. Sie kann sogar mit einem eigenen kleinen Hafen und einem landwirtschaftliches Museum aufwarten. Pro Sommer kommen normalerweise rund 40 Familien aus Deutschland hierher.
Himmelsglühen über dem Saimaa
Nach einem Einweisungs-Rundgang wünscht er nur „viel Spaß!“ Dann sind wir allein im Wald, durch dessen Blicklücke der tiefer gelegene See mit weißer Schneedecke schimmert. Die Bäume salutieren unbeweglich. Einziges „Geräusch“: das Blutrauschen in den Ohren. „Das isses“, sage ich laut vor mich hin, „Ruhe und Stille“. Die beiden sollen das wertvollste Gut der Neuzeit sein. Hier gibt es zweifellos jede Menge davon. Von wegen Dunkelheit: Als sich nach 16 Uhr die Sonne hinter dem gegenüber liegenden Waldsaum des zugefrorenen Sees verabschiedet, glüht der Himmel noch lange nach und lässt seine Farben spielen. Bis der Abend hereinbricht. Das Thermometer fällt in lähmende Tiefen. „Pakkanen paukkuu“, sagen die Finnen, „der Frost klirrt“. Das Holzhaus knackt, knirscht und ächzt, als würde sich die Kälte in die Wände verbeißen. Doch bald knistert das Feuer im Kamin und unterstützt die solarenergetische Elektroheizung. Zeit auch, um die Sauna anzuheizen.
Dann kommt der entscheidende Augenblick: hüllenlos die dreißig Stufen zum Schwitzhäuschen herab tasten. Von minus 20 auf plus 80 Grad – ein Kontrastprogramm von hundert Grad! Nach fünfzehn Minuten stürzt man aufgeheizt und schweißüberströmt ins Freie. Schlagartig ändert man seinen Aggregatzustand und löst sich zu einer dampfenden Wolke auf. Der wadenhohe Schnee knirscht unter den nackten Füßen vor dem Haus. Zwei Körperrollen im noch kälteren Schnee und ich bin rot wie ein aus kochendem Wasser gezogener Krebs. Das nasse Haar gefriert augenblicklich, der Schnee auf der Haut schmilzt, und du fühlst dich wie neugeboren. Das ist nordisches Anti-Aging oder finnischer Jungbrunnen! Kein Problem, noch eine Frischluft-Nacktrunde ums Haus zu drehen. Nach drei Gängen im Schwitz- und Abkühlungsrhythmus durchlaufen wohlige Entspannungswellen den Körper, die nur noch durch eine Runde Glühwein vorm Kamin getoppt werden können. Was könnte schöner sein?!
Grenzerfahrung maritimes Winterabenteuer
Vielleicht ein winterlicher Ausflug auf den Saimaa-See. Ohne Langlauf-Ski oder Schneeschuhe, aber mit 3000 Tonnen Streusalz durchs karelische Eis. Denn auf dem finnischen Meer herrscht auch im Winter reger Schiffsverkehr.
„Nimm dir Schlaftabletten mit und zieh dich warm an!” Das ist die letzte Mail-Botschaft aus dem hohen Norden. Warnung oder gut gemeinter Ratschlag des Kapitäns? Doch bange machen gilt nicht, wenn man wie ich unbedingt seinen alten Traum realisieren will: ein maritimes Winter-Abenteuer mitten in Finnland. Und das beginnt nur eineinhalb Autostunden von unserem Ferienhaus „Koivurinne“ entfernt. Wobei der bullige Tiguan, VWs Verkaufsspitzenreiter, die verschneiten und kurvenreichen Waldpisten elegant meistert
„Terve, welcome!”, ist von oben herab durch die erstarrten Birken zu hören. METEOR ist in weißen Lettern auf schwarzem eisverkrustetem Stahlrumpf zu lesen. Ein bulliger Hochseeschlepper der soliden, alten Art. Der liegt in Mustola bei Lappeenranta. Hier beginnt der Saimaa Kanal, der den See mit der 58 Kilometer entfernten Ostsee verbindet und zur Hälfte über russisches Territorium verläuft.
Wer sich so wie wir ins Grenzgebiet begibt, muss höllisch aufpassen, dass er nicht die gelben sechssprachigen Schilder mit der roten Hand und SEIS – STOP! übersieht. Versteckte Elektronik spürt hier jeden Neugierigen unerbittlich auf. Plötzlich wird man in the middle of nowhere von einem grünen Wagen gestoppt, peinlich nach dem Woher und Wohin befragt und kontrolliert. Wer nachweislich in der Sperrzone Rajavyöhyke erwischt wird, der muss kräftig blechen. Wir haben noch mal Glück gehabt. Der hohe Schnee vor dem russischen Zaun war sogar für unseren Tiguan eine natürliche Grenze, trotz großer Räder und hochliegendem Chassis. Ansonsten hat er alle Situationen des harten nordischen Winters mit Bravour gemeistert, obwohl die Sensorik zum Einfrieren neigt. Das Terrain ist vielfältig: Neuschnee, gefrorener Spurrillen-Matsch, Schotterpisten, festgefahrene, vereiste Schneedecken, kurvenreiche, unbefestigte Waldwege mit steilen, glatten Auf- und Abstiegen. Bei Temperaturen zwischen null und dreißg Grad minus. In Finnland fährt man dafür mit Spikesreifen, die in Deutschland nicht erlaubt sind.
Wenig später im Saimaa-Kanal. „Eerik Laas”, stellt sich der junge Mann vor, der den Passagier aus Brückenhöhe angesprochen hat, „I am the captain”. Spricht’s und packt mich, als es akrobatisch über einen rutschigen Fenderan Bord geht. „Jetzt brummt die Schifffahrt auf dem See”, sagt er und turnt wieder auf die Brücke zum Ablegemanöver. An der nächsten Pier wartet bereits der deutsche Frachter RMS GOOLE. Er hat 3000 Tonnen Streusalz aus Rostock gebracht. Jetzt soll die METEOR ihm eine Bahn brechen durch den vereisten Saimaa See zum Hafen Joensuu, wo er Zellulose für Lübeck laden soll.
Durch die Rinne heizen
Die Haupt-„Show” spielt auf der Brücke. Der 38-jährige Eerik ist jetzt in seinem Element. Mit dem Bugstrahlruder drückt er die METEOR sanft von der Pier weg und lässt sie behutsam an der Flanke des Frachters entlang gleiten. Bis Erster Offizier Ardi Aas nach zwei Schleusen den Telegrafenhebel auf den Tisch legen kann: „Voll voraus!” Auftakt der Symphonie mit pausenlosen Paukenschlägen, die uns tage- und nächtelang begleiten wird, „ein Konzert der besonderen Art”, verzieht er dabei das Gesicht zu einem schiefen Lächeln, „was meinst du wohl, warum wir dir Ohropax und Schlaftabletten empfohlen haben?! Das ist so wie auf einer Rüttelmaschine leben”.
Seit Ende Dezember kennen die fünf Esten unter finnischer Flagge – alle sprechen die Landessprache perfekt – nichts Anderes, sehnen sie sich aber schon nach dem ersten eisfreien Tag. Ein paar Kilometer heizt „Meteor“ mit über zehn Knoten fast noch spielerisch durch die von ihr vorher gebrochene aber bereits wieder zugefrorene Rinne.
Harte Kursänderung nach Nordost. Die zwei starken Schiffsscheinwerfer fingern über eine starre geschlossene Eisdecke, die unter dem Anprall von 400 Tonnen Stahl zu einem bizarren Zackenmuster aufreißt. Ein schwarz-grüner Schwall überflutet die weiße Decke. Minus 25 Grad lassen den Atem augenblicklich gefrieren, und die Luft dampft mystisch-gespenstisch über dem wärmeren Wasser.
METEOR wird spürbar abgebremst bis zum völligen Stillstand. „Über 50 Zentimeter Eisdicke”, schüttelt Ardi den Kopf, „da sind auch unsere 1800 PS machtlos! Bleibt nur eins: rückwärts und dann volle Pulle voraus!” Also Rammfahrt bis zum Aufbäumen, hartnäckig immer und immer wieder. Selbst der Toilettengang wird jetzt zum akrobatischen Akt, wenn man durch die Schüttelei von der Brille geschleudert wird. Mit einem Fluch auf den Lippen. Von wegen: „Ice is nice!” Chief Sergej Brozgalov kommentiert dieses wummernde Eis-Theater, das drei Tonnen Dieselöl pro Tag kostet, auf seine Weise: „Ein paar hundert Pferdestärken mehr hätte ich schon gern”.
Die eisverstärkte RMS GOOLE indes bleibt in respektvollem Abstand. Bei rumpelnder Schleichfahrt tastet er sich durch das Schollenmeer. Seine Lichtfinger, in dem Eisblink grizzelt, erzittern hilflos, als würde er frieren.
Eine Papierfabrik bläst kilometerlange angestrahlte Dampfschwaden in den Himmel, die an eine Feuersbrunst erinnern, dabei wird hier nur in Tag- und Nachtschicht friedlich für den Export produziert. Der Eisbrecher schaukelt dazu wie eine Straßenbahn in ausgeschlagenen Gleisen. Das ist nicht See-, sondern Eisgang.
Erstarrt am Nadelöhr
Die Polarnacht ist schwarz, die Quecksilbersäule mittlerweile auf minus 23 Grad abgesackt. Wärmen kann da nur noch die ständig aufgeheizte Bord-Hölle, pardon, Sauna. So lässt sich die Konvoifahrt über das eisige Kopfsteinpflaster des Saimaa-Sees halbwegs aushalten.
Während es auf der Brücke am Joystick-Ruderhebel heißt: Steuermann halt die Wacht! Kapitän, Erster und die beiden Matrosen lösen sich dabei ab. METEOR und RMS GOOLE, die in Puumala noch einen Lotsenwechsel hat, poltern auf dem einsamen inselgespickten Schlängelkurs unverdrossen nach Norden. Dabei passieren sie „Zonen der Stille”, nämlich durch starke Strömungen offen gehaltene Wasserlöcher. Und das trotz extremer sibirischer Kälte.
An Backbord wird die Parade der wuchtigen rundturmbewehrten Festung Olavinlinna abgenommen, wo im Sommer die weltbekannten Opernfestspiele stattfinden. Jetzt liegt sie erstarrt am Nadelöhr des Saimaa Sees. Die 37.000-Einwohner-Stadt Savonlinna gleitet vorüber. Hier wird die RMS GOOLE um drei Uhr früh an den von Norden kommenden Eisbrecher „Protector“ übergeben. „Wir parken mal rückwärts ein”, verkündet Eerik breit grinsend und dreht seine METEOR so gekonnt, bis sie im Yachthafen fest im Eis liegt. Genau vor einem Supermarkt. Maschine stopp. Nach dem Frühstück schiebt Matrose Sergei Beljohin eine Leiter außenbords. „Wir gehen jetzt Nachschub einkaufen”, verkündet Ardi. Dick vermummt stapfen die Eismänner durch den Pulverschnee, unter dem der See schlummert.
Nach einem furiosen Sonnenuntergang, der sogar die Eisdecke erröten und Kältenebelschwaden aufsteigen lässt, dampft METEOR nach Norden, um den Frachter LIANNE abzuholen. „Die Rinne muss ständig offengehalten werden”, erläutert Eeric, „dafür sind wir vom finnischen Staat gechartert worden”. Wieder eine stukende Nachtfahrt, „aber daran haben wir uns längst gewöhnt”, verabschiedet sich Ardi mit roten Augen, bevor er um Mitternacht auf Wache zieht und dabei vielleicht auch an wärmere Zeiten auf seiner estnischen Heimatinsel Saaremaa denkt.
Das war cool
Anschließend genießen wir wieder den Kontrast zwischen Eiskonzert und Waldesstille. Die entspannenden Tage in selbstgewählter Einsamkeit fließen nur so dahin, denn der Terminkalender ist nach wie vor voll: ausschlafen, lange frühstücken, Kaminholz auffüllen, Schnee-Wanderung auf dem Weg rund um die Halbinsel, wobei man auch auf tierische Spuren von Wolf, Luchs und vielleicht – ganz selten – Bär stoßen kann. Mittagspause, Teestunde am Kamin mit Himmelsspielen, Sauna unterm durch kein Fremdlicht verschmutzten Sternenhimmel, manchmal sogar bei Polarlicht-Beleuchtung, Abendessen, einen lange nicht gesehenen Video-Film ansehen, Waldspaziergang bei klirrendem Frost, gemütlicher Tagesausklang bei Lektüre mit Wein und Musik, ungestörter Tiefschlaf bis in die Puppen.
Wem das noch nicht reicht, der kann sich bei Jukka Langlaufskier leihen oder Schneeschuhe, sich auf den See setzen und Eislochangeln. Oder auch das leistungsstarke WELAN nutzen. Wen es in menschliche Nähe zieht, der kann auf Sightseeing-Tour nach Punkaharju (ca. 25 km) oder Savonlinna (ca. 60 km) fahren. Und das total entspannt, denn Straßenstress findet in Finnland nicht statt.
Irgendwann fängt man auch an, vom Sommer zu träumen, den warmen und hellen Nächten.
Mitte Juli, wenn die Erntezeit von Blaubeeren und Pilzen anbricht, der lauwarme See zum Baden und das Boot zu Rudertouren einlädt. Vielleicht entdeckt man dabei auch eine der 300 Saimaa-See-Robben, die es nur hier gibt.
Am Ende der winterlichen Schnupper-Woche kann man zufrieden feststellen: „Das war cool, ich hab´s wenigstens mal versucht!“ „ Näkemiin! Und Tschüß bis zum nächsten Mal!“
Informationen:
Allgemeines: Kartenmaterial Finnland: über jede Buchhandlung (Topografinen Kartta 1: 20 000, 1: 100 000); Routen-Übersichtskarte 1: 800 000bekommt man mit den Reiseunterlagen zugeschickt.
Oder man holt sich gegen eine geringe Gebühr die App Topo GPS mit allen Regionen Finnlands in allen Massstäben.
Lebensmittel: nach eigenen Vorstellungen zusammenstellen und aus Deutschland mitnehmen, auch Getränke. Kühltasche für den Transport von empfindlichen Produkten zu empfehlen. Küchengeräte und Geschirr sind vorhanden. In den finnischen Supermärkten kann man seinen Proviant ergänzen (Obst, Gemüse, Milchprodukte, Fleisch, Eier etc.). Zur Erleichterung beim Blaubeerenpflücken sollte man dort auch das entsprechende Kämmgerät kaufen. Zu empfehlen sind außerdem frisch geräucherte oder gebratene Maränen – „muikku“ genannt – auf den lokalen Märkten.
Kleidung: so wenig wie möglich, so viel wie nötig – Jogginganzug, Sweat- und T-shirts, Turnschuhe, Hausschuhe, Regenzeug. Mit dem warmen Saunawasser lässt sich auch schnell etwas durchwaschen und in der Sauna über Nacht trocknen. Ansonsten kann frau/man hüllenlos herumlaufen, sofern man kann und mag.
Bettwäsche kann man mieten, muss sie aber nicht mitbringen, ebenso ist es mit Körper- und Geschirrtüchern.
Kohleanzünder: mit dem lassen sich Sauna- und Kaminfeuer problemlos entfachen.
Auch sollte man an Mückenmittel (natürlich nur im Sommer), Saunakonzentrat, Bücher, Spiele, Kerzen, Bademantel und Badelatschen denken. Eine kleine Hausapotheke ist ratsam.
Keine Angst vorm Transport: In den meisten Autos findet all das ohne weiteres Platz. Am besten, man legt sich vorher eine Checkliste an, die immer wieder benutzt und ergänzt werden kann.
Unseren Ferienhaus-Anbieter, ein bäuerliches Familienunternehmen – zwischen Punkaharju und Imatra (ca. 3,5 Autostunden vom Fährhafen Helsinki-Vuosaari entfernt) – gelegen findet man im Internet: www.lomaniemi.fi Die Auswahl unter den 14 Mökkis genannten Ferienhäusern (11 davon sind für Sommer und Winter geeignet) von Jukka Heikkonen für unterschiedliche Ansprüche ist groß. Strom: Solar-Energie.
Tiere: Elch, Luchs, Wolf, Bär.
Sommer-Café, landestypisches Büffet im Gutshaus.
Museum landwirtschaftlicher Geräte.
WELAN und TV/DVD/CD vorhanden.
Fährüberfahrt: www.finnlines.de
MS FINNLADY (Schwesterschiffe auf der Travemünde-Helsinki-Route: FINNSTAR, FINNMAID); sonst noch fünf weitere Ro-Pax-Schiffe auf den Routen zwischen Deutschland, Schweden und Finnland; Bauwerft: Fincantieri, Italien; Baujahr: 2007: BRZ: 45.923; Länge: 2018,80 m; Breite: 30,5 m; Tiefgang: 7,10 m; Lademeter: 4200; Hauptmaschinen: 4 x Wärtsilä a 10.200 kW; Bugstrahlruder: 2 x 2000 PS; Rufzeichen: OJMQ; IMO: 9336268; Nationalität: Finnland; Heimathafen: Mariehamn: Reederei Finnlines, eine Gesellschaft der Grimaldi Group.
Achtung: Zu Corona-Zeiten gelten besondere Vorschriften!
MS METEOR; Typ: Hochseeschlepper mit Eisbrecher-Eigenschaften; gebaut 1960 in Turku als Hilfs- und Ausbildungsschiff für finnische Marine (Umbau 1989); Länge: 38,5 m; Breite: 9,2 m; Tiefgang (max.): 5,13 m; Höhe: 21 m; BRZ: 396 (tdw: 213); Eisklasse: 1 A (höchste finnisch-schwedische); Maschine: Wärtsilä, 1300 kW; Geschwindigkeit (max.): 12 kn; Eigner: Raumacata Oy, Rauma; Rufzeichen: OJJO; Crew: 5 (estnisch); Flagge: Finnland; Heimathafen: Rauma.
Ab 2022 können Passagiere (je 2 in 2 sehr einfachen Kammern) mitfahren; Preis: ca. 100 Euro pro Person/Tag. Anfragen über den Autor auf dessen Heimatseite www.psw-am-sund.de im Weltnetz..
Saimaa
Der See ‒ auch Finnisches oder Karelisches Meer genannt ‒ liegt im Südosten Finnlands (West-Karelien) und ist mit 4370 Quadratkilometern der größte des Landes und der viertgrößte Europas; Küstenlänge: 14.850 km; Inseln: 13.710; tiefste Stelle: 85 m